Über uns

«Der Chef ist keinesfalls wichtiger als die Köchin in der Kantine»

Martin Grob aus Herisau hat 1984 die Idee gehabt, Landwirtschaft mit direkter Hilfe an Notleidende zu verbinden. Daraus entstand später die Stiftung Tosam.

Heute erfreut sich der WinWin-Markt Herisau grösserer Bekanntheit als ihre Trägerschaft, welche 2020 einen Ertrag von fast zehn Millionen Franken erzielte.

Martin Grob, wir kennen uns über 25 Jahre und haben uns bei einem Zivilschutzeinsatz im Wallis, der Heimat meines vorgängigen Gesprächspartners, zum ersten Mal getroffen. Du hast mir ein paar Jahre später, als ich aus Ostafrika zurückkam, geholfen, eine Unterkunft zu finden – bei einem Bauern neben deinem Hof Baldenwil. Die Familie des Bauern hielt Dich für einen guten Menschen, aber sie sah in Dir einen Träumer.

Interessanterweise sagte dies oft auch mein Primarlehrer. Ich würde mich nicht als Träumer bezeichnen. Vielleicht eher als jemand, der auch ferne Visionen als Ziel anerkennt. Es gibt ein Sprichwort: „Erst wenn wir damit aufhören zu träumen, hören wir auf, an uns zu glauben.“

In unseren Breitengraden wird man eher zum Arzt geschickt, wenn man Visionen hat. Und doch hast Du vor 37 Jahren den Hof Baldenwil in Herisau gegründet. Warum?

Die Idee war, mit Menschen, welche es nicht leicht im Leben haben, ein gemeinsames Stück Lebensweg zu gehen. Das geeignetste Mittel dazu war für mich die Arbeit auf einem Bauernhof. Naturverbunden, Kontakt zu Tieren, genügend Arbeiten, bei denen der Sinn und Zweck klar und direkt auf der Hand liegen. Wir hatten anfänglich vier Plätze. Die Menschen mit Suchtproblematiken wurden im Laufe der Jahre von Menschen mit psychischen Problemen abgelöst.

Die Menschen mit Suchproblematiken sind aber nicht verschwunden…

Natürlich nicht. Nach der Einführung von Methadon nahm die Nachfrage nach Plätzen für den stationären Entzug ab. Zürich füllte zuerst die eigenen Institutionen. Für eine kleinere Einrichtungen auf dem Lande, noch dazu im Appenzellerland, interessierte sich keiner mehr. Zum Glück gab es parallel die Entwicklung, dass jemand, der auch ausserhalb, beispielsweise in einer betreuten Wohnsituation wie Baldenwil leben konnte, nicht in einer psychiatrischen Klinik bleiben musste. So hatte sich zwar die Klientel verändert, unsere Plätze waren aber weiterhin begehrt, sodass wir sie sogar von vier auf acht erweitern konnten.

Wie bist Du aufgewachsen?

Aufgewachsen bin ich in Herisau. Meine Mutter blieb für uns vier Kinder zuhause, mein Vater war Bahnbeamter. Während der KV-Lehre gab ich eine Jugendzeitung heraus und gründete mit KollegInnen das Jugendzentrum in Herisau. Dies war wohl der Start in die soziale Arbeit, vielleicht aber auch schon mein Engagement bei den Pfadfindern, als Leiter der Wölfli. Nach dem Lehrabschluss blieb ich noch kurz in der Lehrfirma, bevor ich bei den Schaffhauser Freizeitzentren eine Anstellung als Freizeitleiter bekam. Zeitgleich absolvierte ich die Animatorenausbildung, später dann die Schule für soziale Arbeit in St. Gallen. Nach der Sozialarbeiterausbildung betreute ich in der Stadt Zug einen Jugendtreffpunkt und baute das neue Jugendzentrum auf, das übrigens – wie auch das Jugendzentrum in Herisau, heute noch besteht. Nach einer selbständigen Tätigkeit als Marktfahrer, begann ich dann eben meine Tätigkeit als Landwirt auf dem Hof Baldenwil.

Wie hat die pädagogische Arbeit mit psychisch belasteten Menschen Dein eigenes Familienleben beeinflusst?

Für die Kinder war das Zusammenleben mit derart unterschiedlichen Menschen sicher nicht einfach. Als die Familie grösser wurde – ich habe sieben Kinder, alles Mädchen – hatten wir auf dem Hof zu wenig Platz und zogen in eine externe Wohnung. Rückblickend war dies für uns sicher eine gute Lösung. Meine Arbeit mit Randständigen hatte generell einen grossen Einfluss auf die Sozialisation meiner Kinder. Es erfüllt mich mit Freude, wenn ich sehe, wie sozial alle meine Töchter sind.

1989 hast Du die Stiftung «Tosam» gegründet. Wie ist die Stiftung entstanden und was bedeutet ihr Name?

Um die kleine soziale Institution mit Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen, brauchten wir eine Trägerschaft. Indem ich all mein Hab und Gut per Ende 1988 gestiftet habe, also den Hof, die Tiere, die Maschinen und das Bargeld, konnte ich per 1. Januar 1989 eine Stiftung gründen. Zum Glück wurde ich von der Stiftung weiterhin angestellt… Ich weiss noch: Da der erste Lohn erst am 25. des Monats kam, ich aber all mein Geld gestiftet hatte, durften meine Familie und ich im ersten Monat gratis auf dem Hof essen! Die Stiftung brauchte einen Namen und mir gefiel der Appenzeller Ausdruck „tosam“. Wenn jemand „tosam“ ist, dann ist er eher ruhig, zurückhaltend, zum Beispiel weil er etwas kränklich ist. Aber eben schon auf dem Weg der Besserung.

Du hast in den Nachbargemeinden Degersheim und Flawil je ein Brockenhaus gegründet, dazwischen die Gartengruppe, dann kam der WinWin Markt in Herisau hinzu, die Velowerkstatt usw. Was war die treibende Kraft für diese Expansion?

Während wir in meiner Jugend noch Vollbeschäftigung, also für jeden Menschen eine Arbeitsstelle hatten, so war dies ab 1990 plötzlich nicht mehr so. Ich wollte in unserer Region einen alternativen Arbeitsmarkt aufbauen, der allen Menschen offen stand, welche im herkömmlichen Arbeitsmarkt nicht erwünscht waren. Das erforderte eine möglichst breite Palette an Arbeitsangeboten. Am Schluss meiner Tätigkeit hatten wir über 300 solcher Arbeitsplätze geschaffen, neben den über 50 Stellen in den Leitungen und Betreuungen. Wichtig war mir eine möglichst hohe Eigenfinanzierung. So konnte ich quasi meine kaufmännische Lehre mit der Sozialen Arbeit verbinden oder anders gesagt, eine möglichst gute Verbindung von Ökonomie, Ökologie und Sozialem schaffen.

Am Schluss habt Ihr die Cilander in Beschlag genommen, das Büro meines Adoptivvaters wurde ein Kleiderladen und das Büro von Hermann Müller, dem Firmenchef, ein Buchladen.

Mit der Umnutzung des ehemaligen Bürogebäudes der Firma AG Cilander in ein neuartiges und spezielles Secondhand-Warenhaus sowie der Integration der gemeindeeigenen Entsorgungsstelle, war dieses Projekt von Beginn weg eine Erfolgsgeschichte.

Was mich an Dir beeindruckt hat, war Dein antiautoritärer Führungsstil. Trotzdem schien in Deinen Betrieben alles recht reibungslos zu funktionieren, Dein Team, grösstenteils Sozialhilfeempfänger, arbeitete ruhig und diszipliniert. Es gibt das daoistische Sprichwort: «Der beste Führer ist der, dessen Existenz gar nicht bemerkt wird.»

Für das reibungslose Funktionieren einer Firma braucht es jeden Einzelnen und wie in einem Uhrwerk ist jedes Rädchen gleich wichtig. Der Chef ist keinesfalls wichtiger als die Köchin in der Kantine. Natürlich haben die Entscheidungen der Chefs allenfalls grössere Auswirkungen, positive oder auch negative. Aber wenn die Köchin ausfällt und alle Arbeiter hungrig sind, dann muss sich der Chef schnell etwas einfallen lassen, sonst bekommt er ein gröberes Problem. Ich fühlte mich nie als etwas Besseres, sondern mit den Mitarbeitenden sehr verbunden. Alle sitzen im selben Boot. Ich hatte auch grosse Achtung vor den sogenannten «Klienten». Wenn bei einem Sozialhilfeempfänger von seinem Lohn bis auf Fr. 300 alles mit der Sozialhilfe verrechnet wird, er also für seine Arbeit Fr. 300 mehr hat, als wenn er nicht „in diesem Beschäftigungsprogramm“ arbeiten würde, er also nicht einmal zwei Franken in der Stunde verdient und trotzdem jeden Tag seine Arbeit verrichtet und dazu noch lächelt, dann hat er doch sicher Achtung, nein Hochachtung und Anerkennung verdient.

Vor zwei Jahren wurdest Du pensioniert. Wer Dich kennt, weiss, dass du nicht untätig sein kannst. Auf der Webseite www.achten-statt-schlachten.ch, die du mir vorab zugeschickt hast, steht das Tierwohl im Vordergrund. Dort steht: «Auf unserer Erde leben viel mehr Tiere als Menschen. Aber der Mensch hat auf Erden statt eines Paradieses eine Diktatur errichtet, deren Auswüchse immer grausamer und verwerflicher werden. Einige Tierarten sind zwar seine Lieblingstiere, andere aber zählen für ihn nur als Produktionsmittel. Trotz Tierschutzgesetz werden ihnen die elementarsten Grundrechte verwehrt, allen voran das Recht auf ein Leben in Würde. Die Zeit ist reif, grundsätzlich über die Bücher zu gehen.» Eine klare Ansage.

Es geht mir darum Fragen aufzuwerfen, Gedanken anzustossen und Diskussionen anzuregen. Kürzlich konnte ich bei einem Spaziergang einem Reh im Wald recht lange in die Augen schauen. Das ist enorm, da passiert etwas mit dir. Das geht in die Tiefe deiner Persönlichkeit. Aber auch, wenn du deinem Hund oder deiner Katze in die Augen schaust, spürst du diese Verbundenheit. Und ebenso, wenn du Kontakt mit einem Rind oder einem Schwein hast. Ich frage mich nur, wieso Nutztiere einen so tiefen Stellenwert in unserer Gesellschaft haben?

Das stimmt natürlich. Wir sorgen uns um jedes entlaufene Büsi, aber machen uns wenig Gedanken über die Ausbeutung von «Nutztieren».

Ja. Der Wildtierschutz und der Haustierschutz spielen in einer anderen Liga als der Nutztierschutz. Wenn die Halter von Nutztieren von «Tierwohl», «artgerechter Haltung» oder von «tiergerecht» sprechen, dann machen sie sich selbst etwas vor. Eigentlich müssten sie nur dem Tier in die Augen schauen, wohlwollend und offen, dann würden sie im eigenen Herzen die Antwort finden, was das Tier selbst eigentlich möchte. Möchte das Huhn mit zweitausend Kolleginnen in einer Halle leben? Möchte das Schwein auf Stroh schlafen oder auf dem Betonboden? Möchte das Chälbli gleich nach der Geburt von seiner Mutter getrennt werden? Möchte das Güggeli schon als Jugendlicher übergewichtig sterben? Der grosse Fleischkonsum aus dieser Tierhaltung steht in Zusammenhang mit unseren gesundheitlichen Problemen und – nicht zu unterschätzen – unser stillschweigendes Tolerieren der Gewalt an fühlenden und leidensfähigen Mitbewohnern dieser Erde hat negative Auswirkungen auf das Seelenheil von jedem Einzelnen.

Auf Deiner Webseite schreibst Du, wie Du 1984 den Bauernhof Baldenwil übernommen hast und von den Bauern aus der Nachbarschaft gelernt hast, mit Vieh «umzugehen». Du entschuldigst dich im Nachhinein bei den Kühen, dass Du sie im Winter nicht nach draussen gelassen hast. Wenn ich darüber nachdenke, schäme ich mich dafür, dass meine täglichen, unbedachten Handlungen immenses Tierleid verursachen. Nur ist es ein weiter Weg, «vernünftige Menschen» dazu zu bringen, umsichtiger zu leben. Wie setzt man edle Gedanken in konkrete Taten um?

Ja, sicher ist es ein weiter Weg, und ein strenger dazu. Wichtig ist, dass wir überhaupt unterwegs sind und nicht stehen bleiben. Und jeder soll mit seinem eigenen Tempo unterwegs sein dürfen, die einen halt etwas gemächlicher und die anderen joggend. Wichtig ist auch, dass wir für unser Tun die Verantwortung übernehmen. Wenn wir im Grossverteiler das billigste Aktionsfleisch kaufen, müssen wir das vor uns selbst und vor der Schöpfung verantworten. Wir dürfen den Schwarzpeter nicht einfach den Fleischproduzenten zuschieben. Sicher würde es helfen, wenn bei jedem Fleischregal ein Bild vom entsprechenden Produktionsbetrieb und vom Schlachtprozess hängen würde.

Du hast mir geschrieben, nach Pfingsten wirst du bei der erstbesten Schönwetterperiode deinen Rucksack packen und wieder einmal eine grössere Wanderung mit Deinem Hund unternehmen.

Das ist die sechste Wanderung mit meinem Hund. Um die grösstmögliche Freiheit geniessen zu können, haben wir kein Ziel, keine Routenplanung, kein Tages-Soll. Wir gehen einfach den gelben Wanderwegweisern nach und entscheiden fortlaufend. Manchmal entscheidet auch der Hund. Da wir das Zelt dabeihaben, sind wir mit den Übernachtungsmöglichkeiten noch freier. Die letzte Wanderung machten mein Hund und ich einen Tag nach meiner Pensionierung. Wir waren über sechs Wochen unterwegs, und als wir heimkamen, war meine über dreissigjährige Tätigkeit als Geschäftsleiter der Stiftung Tosam verarbeitet und in den Hintergrund getreten.

https://www.dieostschweiz.ch/artikel/der-chef-ist-keinesfalls-wichtiger-als-die-koechin-in-der-kantine-9YAa8GA

Bericht von Marcel Emmenegger, Die Ostschweiz, 23. Mai 2021

Mea culpa

1984 habe ich einen Bauernhof übernommen. Ich stamme nicht aus einer Bauernfamilie und musste (durfte) alles von Grund auf erlernen. Meine erste Kuh hiess Viola. Sie blieb mir in bester Erinnerung. Wegen einer Euterentzündung konnten wir sie in späteren Jahren nur noch an drei Strichen melken. Noch heute erinnere ich mich nicht nur an ihr Aussehen, sondern auch an ihren Geschmack. Wenn unsere fünf Kühe von der Weide kamen, trottete sie sehr gemütlich am Schluss. Die anderen vier standen an ihren Plätzen und wurden bereits gemolken, als Viola auch noch ihren Platz einnahm.

Die Arbeiten auf Feld und Stall und die Tierhaltung habe ich schrittweise von Bauern aus der Nachbarschaft gelernt. Es waren keine „studierten Landwirte“, aber Bauern seit Generationen. Sie zeigten mir „wie man es macht“.

Im Spätherbst, als die Kühe nicht mehr auf die Weide durften, wurden diese eingestallt. Jede hatte ihren Platz und wurde mit der Kette an der Futterkrippe festgebunden. Und dort blieben sie, bis der Frühling den ersten Weidegang erlaubte. Dank der Selbsttränkanlage, welche in unserem Stall montiert war, mussten die Kühe nicht mehr zwei Mal täglich nach draussen zum Brunnen gelassen werden. Welch Fortschritt! Welche Arbeitserleichterung! Und welcher Rückschritt im Tierwohl! Der erste Weidegang im Frühling war eine Attraktion. Die ganze Familie schaute dem Schauspiel zu und beobachtete die Freudensprünge auch der ältesten Kühe.

Heute mache ich mir grosse Vorwürfe, warum ich nicht mein Hirn eingeschaltet habe und nur einige wenige Gedanken verwendet habe, um herauszufinden, was wohl die Kühe gewollt hätten. Man machte es einfach so, wie es „normal“ ist. Vielleicht zwei Mal wurden sie im Winter in den Schnee gelassen. Aber tagelang, wochenlang, monatelang standen sie angebunden an ihrem Platz. Ich bitte im Nachhinein meine Kühe um Entschuldigung und Vergebung. Ich habe zuwenig studiert. Mea culpa!

Martin Grob